Jahresthemen
2017: Ausdruck
Das aktuelle Jahresthema widmet sich dem Ausdruck (der Expression) als künstlerischem Vermögen der Natur einerseits und als natürlichem Vermögen der Kunst andererseits. Das komplexe konzeptuelle Feld, das der Begriff „Ausdruck“ beschreibt, markiert einen Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, Form und Materie. Im Jahr 2017 wird sich die Forschungsstelle daher ausgehend von unterschiedlichen Konzepten des „Ausdrucks“ mit Naturbildern beschäftigen, die die genannten Gegensätze unterlaufen.
Ausdruck scheint ein inneres Leben zu enthüllen. Dies gilt sowohl für beseelte als auch für unbeseelte Gegenstände. Man erfährt beispielsweise eine Gegend als einladend oder als bedrohlich – ähnlich wie man die sublime Heiterkeit oder Schrecken in einem Gemälde Turners wahrzunehmen vermag. Der entsprechende grundlegende, affektbestimmte Weltbezug bildet die Grundlage der Alltagserfahrung. So schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari, „die Welt existiert nicht außerhalb ihrer Expressionen.“
Was genau im Allgemeinen unter „Ausdruck“ verstanden wird, ist aber höchst unklar. Im Gegensatz zu Konzepten wie „Repräsentation“ oder „Bezeichnung“ zielt „Ausdruck“ auf eine bedeutungshafte Unmittelbarkeit, die eher natürlich als konventionell erscheint. Im Anschluss an Aristoteles hat die frühneuzeitliche Psychologie betont, dass sowohl Menschen als auch Tiere die formalen Gegebenheiten eines Objekts immer zugleich spontan als Ausdruck seiner Qualitäten erfassen: Das Schaf sieht den Wolf und empfindet Furcht. In jüngerer Zeit wurde vorgeschlagen, dass der menschliche Gesichtsausdruck und seine Interpretation auf angeborenen oder instinkthaften Grundlagen beruht. Demnach erfassen Kleinkinder die Stimmung ihrer Mutter lange bevor sie in der Lage sind, geometrische Formen zu erkennen, geschweige denn abstraktere Konzepte.
Wenn wir den Ausdruck der Überraschung bei einer anderen Personen wahrnehmen, dann ist das entsprechende Gefühl (oder die Stimmung) nicht irgendwo „im Innern“ der anderen Person; das Gefühl manifestiert sich unmittelbar in ihrer Gebärde bzw. Haltung. „Ausdruck“ kann daher als eine dynamische Durchdringung von psyche und physis beschrieben werden. Was Goethe der Natur insgesamt zusprach, kann tatsächlich von allen expressiven Phänomenen gesagt werden: Sie haben „weder Kern noch Schale“, „weder Außen noch Innen“. Auch wenn, wie das Diktum Heraklits lautet, Natur es liebe, sich zu „verbergen“, ist doch die entsprechende Verhüllung oder Verstellung Teil ihres „Ausdrucks“.
Auch Bilder sind „expressiv“ – sie zeigen immer, auch wenn sie verbergen. Ihr Ausdruck zielt immer auf einen entsprechenden Eindruck. Einige Autoren haben versucht, die dynamischen Beziehungen zwischen Bildern und emotionalen Wirkungen genauer zu bestimmen und bilden damit einen wichtigen Ansatz sowohl in der modernen Kunst als auch in der aktuellen Neuroästhetik. Andere dachten dabei sogar an phylogenetische Einprägungen der Evolutionsgeschichte. Häufig wurde dabei aber vergessen, dass „Ausdruck“ zunächst ein ästhetisches Konzept beschreibt, das in Kunsttheorie und -praxis lange schon im Zentrum stand, bevor es zum Gegenstand der Wissenschaft wurde.
Künstler wie Albrecht Dürer, Paolo Lomazzo oder Charles Le Brun zählten physiognomische Kenntnisse zu den entscheidenden Voraussetzungen für das Gelingen eines Kunstwerkes. Und auch Leonardo da Vinci war beispielsweise davon überzeugt, dass sich psychische Zustände unmittelbar in Gesten ausdrücken und dass sie ebenso unmittelbar und universell verstanden werden. Leonardo und sein Milieu sahen Natur als komplexes expressives Ereignis, in dem Dinge und Körper kontinuierlich Bilder, Gerüche, Töne und „Qualitäten“ emanieren. Beseelte Körper nehmen diese Emissionen auf und als Intensitäten wahr – eine Vorstellung, die auf die epikureische Naturphilosophie zurückgeht. Die Dinge und Wesen der Natur teilen sich mit durch Ausdruck und produzieren Resonanzen als Eindruck. In dieser Grundüberzeugung trafen sich Kunst und die Erforschung der Natur. In der Frühen Neuzeit lauten die entsprechenden Schlüsselbegriffe: Physiognomik, Signaturenlehre und „Sympathie“.
Aby Warburgs Werk enthält für diese Fragestellung wichtige Ansätze („Ausdruckskunde“). In seinen Forschungen untersuchte er, wie sowohl beseelte Gebärden als auch unbeseelte Bewegungen – Gebärden der Leidenschaft, vom Wind bewegte Gewänder – immer schon affektiv aufgeladen und historisch sedimentiert sind. Die grundlegende Fähigkeit der Natur, bedeutungsvolle Repräsentationen ihrer selbst zu produzieren, wird in der zeitgenössischen Kognitionsbiologie aufgegriffen (Autopoesis, Selbstreferenzialität). Natur erscheint in dieser Perspektive als Produzentin ihrer eigenen „Bilder“, als „Überfluss“ von Bedeutung in wahrnehmbaren und wahrnehmungsförmigen Gestalten.
2016: Naturalismen
Die Naturbilder, denen sich die Arbeit der Forschungsstelle widmet, lassen sich auf dem Grundriss von strikten Oppositionen wie etwa Natur versus Kultur, Präsenz versus Repräsentation, Realität versus Konstruktion keineswegs angemessen untersuchen. Sie widersetzen sich vielmehr diesen traditionsreichen Dualismen und verbinden auf vielfältige Weise, was sich vermeintlich gegenübersteht. Hier liegt eine der großen Herausforderungen der gemeinsamen Forschung: Wie lassen sich die Relationen zwischen Kunst und Natur an konkreten Bildern und Artefakten präzise erfassen und in ihrer Historizität verstehen? Und inwiefern ergeben sich daraus übergreifende Schlüsse für künstlerische und wissenschaftliche Naturbilder?
Über Naturbilder zu forschen, bedeutet auch, sich mit den Theorien und Praktiken der Nachahmung auseinanderzusetzen. Nach Kräften und Intensitäten sowie Materie und Qualitäten bilden deshalb Konzepte und Phänomene des Naturalismus unseren dritten Jahresschwerpunkt. Im Zentrum stehen dabei zum einen historische Stilrichtungen in der Kunst; etwa der „Naturalismus um 1900“ oder der „Naturalismus der Renaissance“ als Epochensignatur. Was macht das „Naturalistische“ und dessen historische Spezifik aus? Was unterscheidet Naturalismen – gerade auch im interkulturellen Vergleich, und welche Kontinuitäten gibt es? Welche Ästhetisierungen von Natur sind damit verbunden? In enger Verbindung damit soll es auch um systematische Aspekte des Begriffs gehen, der häufig normativ, in expliziter Opposition zu kulturellen Konstruktionen und Medialisierungen, verwendet wurde. Die entsprechenden Implikationen gehen weit über künstlerische Fragestellungen hinaus und umfassen beispielsweise ethische ("Naturrecht") und philosophische ("naturalistischer Fehlschluss") Debatten. Die rapide ausgreifenden Erklärungsansprüche der modernen Naturwissenschaften ergreifen den Menschen und alle Aspekte seines Daseins und stellen traditionelle Konzepte (Subjekt, Freiheit, Bewußtsein) als Grundlage der kulturellen und sozialen Dynamik in Frage. Naturbilder in Kunst, Wissenschaft und Technik zu erforschen bietet wichtige Grundlagen für eine Kritik eindimensionaler "Naturalisierungen" menschlicher Kultur.
Auch das Jahresthema "Naturalismen" besitzt einen historischen Schwerpunkt in der Frühen Neuzeit. Das Gebot der Nachahmung von Natur war hier bereits in all seinen Facetten von einer grundlegenden Polarität gekennzeichnet die sich zwischen den dynamischen Verfahren und den gegenständlichen Hervorbringungen der Natur aufspannte. Einerseits lieferten die Praktiken der mimetischen Arbeit vielfältige Grundlagen für den Versuch, Natur in ihren Prozessen und Potentialen zu verstehen und ihre Gestalten zugleich selbstbewusst zu modifizieren. Andererseits geriet mit dem Ziel der exakten Gegenstandswiedergabe der menschliche Sinnesapparat zunehmend in den Fokus des Interesses und damit die Frage nach dem unweigerlichen Anteil des Betrachter am "Bild" der Natur.
2015: Materie und Qualitäten
Die Polarität von Materie und Form ist eines der wirkmächtigsten Konzepte der klassischen Philosophie. Mit ihrer daran anschließenden Gegenüberstellung von Form und Inhalt war die Kunstgeschichtsschreibung lange Zeit "platonischer" als ihr aristotelisches Vorbild. Selbst künstlerische Materialien wurden in dieser ikonologischen Perspektive zu bloßen Zeichen auf der ideellen Bedeutungsebene von Kunstwerken. Erst in jüngster Zeit gerät die physische Faktizität der Kunstwerke und ihre Konnotationen verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
In Anknüpfung an das aristotelische Motiv einer Analogie zwischen natürlichen Formkräften und menschlicher Technik wurde in der mittelalterlichen Naturphilosophie die natura naturans zur Künstlerin und Technikerin, die ihr Material in unendlicher Variation formt und qualifiziert. Von hier ausgehend, erscheint das Ziel der Naturnachahmung in der nachmittelalterlichen Kunst ambivalent. Einerseits zielt Nachahmung auf die möglichst spiegelgetreue Repräsentation natürlicher Körper und Gegenstände; andererseits beansprucht sie Ähnlichkeit mit den Prozessen und den Wirkweisen natürlicher Hervorbringungen. In der Bearbeitung ihres "Materials" modifiziert und artikuliert die Kunst dessen sinnliche Qualitäten. Künstler besitzen intime Kenntnisse dieser Qualitäten – die Körnigkeit des Steins, Weichheit und Härte, die Textur der Leinwand, die Viskosität des Öls –, bevor diese im Werk transformiert und akzentuiert werden können.
Modellierungen von Kunst in Analogie zur Natur unterlaufen so die Dialektik von Natur und Kultur. Sie präsentieren ihre jeweiligen Pole als unauflöslich ineinander verwurzelt und den intelligiblen Gehalt als Spross ihrer materiellen Physis. Die Qualitäten von Kunstwerken bleiben mit den Erzeugnissen der Natur untrennbar verbunden. Bis in die Moderne hinein wurden dabei auch die materiellen Geneseprozesse der Natur im Horizont artifizieller Fertigungsvorgänge beschrieben, auch wenn die jeweiligen Wirkmechanismen enigmatisch im Verborgenen blieben und auch heute noch bleiben.
Mit dem zweiten Jahresthema der Forschungsstelle "Naturbilder / Images of Nature" erwarten wir uns nicht zuletzt Synergieeffekte mit dem ebenfalls am Kunsthistorischen Seminar der Universität Hamburg angesiedelten DFG-Projekt "natura - materia - artificio. Die Reflexion von Naturmaterialien in bildender Kunst und Kunsttheorie vom 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert". Unser Jahresthema ist - ähnlich wie "Kräfte und Intensitäten" (2014) - bewusst breit formuliert, um ein möglichst offenes Forum für das Gespräch unterschiedlicher Disziplinen zu schaffen.
2014: Kräfte/Intensitäten
Traditionell durch eine Vielzahl von Umschreibungen erfasst (energeia/potentia, impetus, virtus, vis, vehementia, forza etc.), markieren »Kräfte« das Zentrum wirkungsästhetischer Strategien; sie zielen auf eine für die Betrachter evidente Dynamik der Artefakte. Zugleich beziehen sich Kunst und Technik seit jeher auf die Kräfte der Natur, die sie nachzuahmen, zu bändigen und zu überbieten suchen. Der frühneuzeitliche Kunstdiskurs arbeitet an der Differenzierung zwischen bewegenden (quantitativen) und bildenden (qualitativen) Kräften bzw. Intensitäten. Uns interessieren die Transformationen des Begriffs, der Kunst, Physik, aber auch Politik und Religion lange Zeit eine gemeinsame Basis bot, bevor die Kraft allmählich aus der physikalischen Axiomatik verschwand. Gleichzeitig begann die Karriere der Kraft als kulturelle, psychische und zuletzt ästhetische Kategorie, die als Qualitätskriterium den künstlerischen Diskurs noch immer prägt.
Spätestens seit Leonardo da Vincis anerkennenden Worten über die Macht der Musik, die ihre Zuhörer „halbtot“ vor Begeisterung zurücklässt, hat der Kunstdiskurs das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter als Überwältigung geschildert. Die Kraft (forza) und ihre semantischen Derivate (z.B. terribilitá) wurden im 16. Jahrhundert zu einer Kategorie der Wirkungsästhetik. Die Konnotationen der Kraft verweisen dabei auf das dominierende physikalische Modell der „gewaltsamen Bewegungen“, wie es die mittelalterliche Impetusphysik entwickelte, aber auch auf deren Wurzeln in der klassischen Rhetorik (movere). Kunstwerke enthalten in dieser Perspektive eine gesammelte Kraft, die in der Lage ist, ihre Betrachter zu berühren und zu bewegen. Dabei standen neben der Impetusphysik Religion und (Natur-)Magie Pate. Das Modell der Interaktion zwischen Werk und Betrachter als Dialog oder Austausch wurde im 16. Jahrhundert allmählich durch die Vorstellung des aktivierten Kunstwerks bereichert, dessen visuelle Energien im Betrachter entfesselt werden.