Die Lehrsammlung des Instituts der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie
Die Lehrsammlung der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie wurde mit Begründung des Faches an der Universität Hamburg ins Leben gerufen. Sie besteht aus Ankäufen, Dauerleihgaben, insbesondere des Archäologischen Museums Hamburg-Harburg, und kleinen privaten Sammlungen. Es finden sich neben Originalen und angekauften Repliken auch Objekte, die im Rahmen der experimentellen Archäologie gefertigt wurden. Die Lehrsammlung ist zwar nicht so groß, birgt aber trotzdem das eine oder andere Kleinod. Sie wird auch heute weiterhin vergrößert, teils durch Schenkungen, teils durch Repliken.
Der Sammlungsschwerpunkt liegt im vorgeschichtlichen Material, insbesondere der Steinzeiten Norddeutschlands. Zudem haben auch einige Objekte aus anderen Teilen der Welt ihren Weg in diese Sammlung gefunden. Die Lehrsammlung umfasst natürlich auch einige typologisch relevante Fundstücke aus den vor- und frühgeschichtlichen Zeitepochen. Die Objekte der Sammlung dienen in erster Linie als Anschauungsmaterial für die Studierenden. So werden sie regelmäßig in Seminaren, Bestimmungs- und Zeichenübungen in die Lehre eingebunden. Im Rahmen einer fortlaufenden Übung wird die Lehrsammlung gerade neu gestaltet und die Objekte von Studierenden in kurzen Artikeln aufgenommen. In Folge wird hier auf unsere Internetseite monatlich jeweils ein ausgewähltes Stück vorgestellt.
Für Kommentare und Fragen immer offen und bei Besuchen wenden Sie sich gerne per Mail an Birte Meller (birte.meller@uni-hamburg).
Fund des Monats - Dezember 2022
Mikrolithen des Mesolithikums
Ilka Henke
Mikrolithen (altgriech. μικρός mikrós = klein und λιθος líthos = Stein) sind eine Leitform des europäischen Mesolithikums[1]1, ihr Ursprung lag jedoch bereits im Aurignacien[2] bzw. dem Jungpaläolithikum (HAHN 1993, 255). In ihrer späten Form fanden sie auch im Neolithikum noch Verwendung. Sie sind vielfältig in ihrer Größe und Form, sodass sich verschiedene Anwendungsmöglichkeiten vermuten lassen. Nachgewiesen sind vor allem der Einsatz als Pfeilspitze und Widerhaken im Pfeilschaft. Hergestellt wurden Mikrolithen aus Klingen, seltener aus Abschlägen. Vor allem die Kerbtechnik vereinfachte die Produktion (s.u.): Hier wird aus einer Klinge durch „einfache“ Drucktechnik eine Spitze herausgearbeitet, die dann weiter retuschiert wurde.
Grundsätzlich lassen sich Mikrolithen in zwei Formengruppen einteilen: (a) nicht-geometrische und (b) geometrische:
a) Einfache Spitzen, Dreieckspitzen, Sauveterrespitzen, Mikro-Rückenspitzen
b) Dreiecke, Trapeze, Segmente
Innerhalb dieser Gruppen existiert eine enorme Formenvielfalt mit zum Teil deutlichen lokalen und regionalen Ausprägungen.
Abb. 1 AI1 10-001-1
Der hier abgebildete hellgrau patinierte Mikrolith ist ein Trapez, das heißt, dass „beide Enden durch Retuschen abgetrennt sind; mit mehr oder weniger parallelen unretuschierten Kanten.“ (Definition nach Joachim HAHN 1993, 264).
Trapeze treten in Norddeutschland und -europa ab ca. 6200 v. Chr. auf, was kulturell der beginnenden Kongemose-Kultur entspricht (BOKELMANN 1999) und damit in die zweite Hälfte des Mesolithikums datiert.
Das Stück ist Teil der Sammlung G. Schmidt-Bardorf und stammt vmtl. aus Ebeltoft in Jütland, Dänemark. Genauere Fundumstände sind nicht bekannt.
Abb. 2. Schematische Darstellung der chronologischen Entwicklung der Mikrolithen in Nordeuropa (nach Bokelmann 1999, 190).
Abb. 3, Herstellung von Mikrolithen mit Kerbtechnik (nach Hahn 1993, 256).
LITERATUR
BOKELMANN 1999
Bokelmann, Klaus (1999): Interkulturelle Kontakte. Zum Beginn des Spätmesolithikums in Südskandinavien. Geweihaxt, Dreick und Trapez, 6100 cal BC. In Offa 56, pp. 183–197.
HAHN 1993
Hahn, Joachim (1991): Erkennen und bestimmen von Stein- und Knochenartefakten. Einführung in die Artefaktmorphologie. 2 (1993. Tübingen: Institut für Urgeschichte der Universität Tübingen (Archaeologica Venatoria, 10).
Weitere:
Barrière, Cl.; Daniel, Raoul; Delporte, Henri; Escalon de Fonton, M.; Parent, René; Roche, Jean; Rozoy, J.-G. (1972): Epipaléolithique-Mésolithique. Les armatures non géométriques. In bspf 69 (1), pp. 364–375. DOI: 10.3406/bspf.1972.8171.
Floss, Harald (2012): Steinartefakte. Vom Altpaläolithikum bis in die Neuzeit. Tübingen: Kerns Verlag (Tübingen Publications in Prehistory).
[1] Ca. 14.000–5.000 BP in Europa
[2] Ca. 40.000– 25.000 BP
Fund des Monats - Januar 2023
Replik einer Bernsteinfigur aus Juodkrantė (Litauen)
Helene Bochert
Juodkrantė in Litauen, früher Schwarzort in Ostpreußen, war seit den 1870ern Ort von systematischen Bernsteinabbaggerungen. Die Firma Stantien & Becker, die die Arbeiten durchführte, stieß dabei immer wieder auf Figuren und andere bearbeitete Bernsteinobjekte, von denen die interessantesten Stücke aufgehoben wurden (Quast/Erdrich 2013). 1882 veröffentlichte Richard Klebs in den Beiträgen zur Naturkunde Preussens einige der Stücke, die in der Sammlung der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg gelandet waren (Klebs 1882). Darunter befand sich eine etwa 14 cm hohe Figur aus Bernstein, die von Klebs beschrieben und gezeichnet wurde (Tafel IX, 2).
Die Figur stellt ein menschliches Wesen dar. Der Kopf ist unverhältnismäßig groß im Vergleich zum Körper, die Beine enden über den Knien. Arme und Beine sowie Gesichtszüge sind durch Ritzungen und Bohrungen verdeutlicht, in den Achseln befinden sich Bohrlöcher, mit denen das Stück vermutlich an einer Schnur befestigt oder getragen wurde. Die vorliegende Replik besteht aus Gips, der mit grüner und roter Farbe bemalt wurde. Am unteren Teil der Figur befinden sich einige lachsfarbene Farbkleckse. Auf der Rückseite wurden die Zeichen „3388. W“ eingeritzt, weiterhin befindet sich auf der Rückseite ein kleiner Papiersticker mit der Zahl „209“ sowie die Überreste einer größeren Papierstickers.
Klebs erwähnt in seiner Beschreibung, dass die über den Beinen sichtbaren Schrammen (an der Replik gut zu sehen) Beschädigungen seien, die bei der Ausgrabung durch die Baggereimer erfolgt seien. Auf der Zeichnung von 1882 sind die Schrammen nicht abgebildet, auch die Rückseite wurde nicht gezeichnet.
Über den Fundkontext (über 400 Stücke der Sammlung) konnte die Figur durch die Anwesenheit V-förmig durchbohrter Knöpfe in das Spätneolithikum datiert werden. Auch die Ähnlichkeit zu anderen figürlichen Fundstücken des Spätneolithikums (etwa die Figuren aus Mammutknochen und Mammutelfenbein aus Ust‘-Uda (Sibirien) (Krosigk 1992, 47) legt eine entsprechende Datierung nahe.
Ob der ungenauen Ausgrabungsmethode lässt sich der Entstehungskontext der Figur leider nicht mehr rekonstruieren. Quast und Erdrich sprechen die Möglichkeit einer einstigen rituellen Niederlegung an, die Vielzahl der Funde legt aber auch den Gedanken eines neolithischen Herstellungszentrums für Bernsteinobjekte nahe.
Erschwert wird die Bearbeitung der Stücke auch durch die Tatsache, dass ein Großteil der Königsberger Sammlung im April 1945 vernichtet wurde. Auch die fragliche Bernsteinfigur existiert heute nur noch als Replik, möglicherweise mehrfach – diese Frage würde allerdings eine intensivere Recherche erfordern.
Literaturverzeichnis
Klebs 1882:
R. Klebs, Der Bernsteinschmuck der Steinzeit von der Baggerei bei Schwarzort und anderen Lokalitäten Preussens. Beiträge zur Naturkunde Preussens 5, 1882.
Krosigk 1992:
H. G. S. von Krosigk, Bemerkungen zu elf Idolen des 8. - 6. Jahrhunderts v. Chr. aus der älteren Nekropole von Achmylovo am linken Wolgaufer in Mittelrußland. Praehistorische Zeitschrift 67,1, 1992, 43–65.
Quast/Erdrich 2013:
D. Quast/M. Erdrich (Hrsg.), Die Bernsteinstraße. Archäologie in Deutschland / Sonderheft 4 (Darmstadt 2013).
Fund des Monats - Februar 2023
Ein Faustkeil des Moustérien
Michael Lischke
Bei dem Artefakt (Fundnummer: AI1 05-200) handelt es sich um ein bi-fazial bearbeitetes Kerngerät. Dank der Beschriftung kann der Faustkeil dem Fundort „Le Moustier“ zugeordnet werden. Aufgrund seiner beidseitigen Retuschierungen handelt es sich bei dem Faustkeil um einen Typ des sogenannten „Moustérien de tradition acheuléenne“ (MTA).
Der herzförmige Faustkeil wurde aus gelblichem Feuerstein hergestellt. Seine Abmessungen sind: 105 x 80 x 37 (mm). Sein Gewicht beträgt ca. 220 g. Der Faustkeil ist auf einer Seite mit der Fundnummer (AI1 05-200) sowie dem Fundort (Le Moustier) beschriftet.
Die Schichtfolge in Le Moustier ist von unten nach oben:
- Moustérien in einer Schicht aus Sand, Kies und Lehm mit interglazialer Fauna,
- Moustérien mit Faustkeilen in einer kaltzeitlichen Frostschuttschicht,
- Moustérien ohne Faustkeile in einer Schicht aus einer Zeit mit gemäßigtem Klima,
- Mousterien aus einer kühleren Zeit.
- Châtelperronien,
- Aurignacien.
Der Fund stammt nach Müller-Karpe aus der Schichtfolge „Mousterien mit Faustkeilen“, nach Peyroney aus den Schichten F-H (Mousterien de tradition Acheuleene) und kann auf die Zeit zwischen 60.000 und 42.000 BP datiert werden.
Literatur
MÜLLER-KARPE 1966: H. Müller-Karpe, Handbuch der Vorgeschichte, Erster Band, Altsteinzeit (München 1966).
TEXIER ET AL. 2020: J.-P.Texier/E. Discamps/B. Gravina/M. Thomas, Les dépôts de remplissage de l’abri inférieur du Moustier (Dordogne, France): lithostratigraphie, processus de formation et évolution du système géomorphologique. Paleo. Revue d’archéologie préhistorique 30-2, 2020, 320–345. https://journals.openedition.org/paleo/5826, 02.02.2022.
Fund des Monats - März 2023
Schreibgriffel "Harzer Gruppe"
Sara Colberg
Artefaktbestimmung - Bei dem Artefakt mit der Nummer AI1 05-141 handelt es sich um ein Werkzeug, genauer gesagt um einen Schreibgriffel. Er ist ein Schreibgriffel der Harzer Gruppe, ein Typ der lange Zeit und auch heute noch sehr oft fälschlich als Nadel interpretiert wird. Sein Fundort ist unbekannt.
Metrische Daten - Der Schreibgriffel hat eine Gesamtlänge von 15,3cm und der Schaft hat auf mittlerer Höhe einen Durchmesser von etwa 3mm. Die Verzierungen nehmen etwa 4cm der Gesamtlänge ein. Die Breite der Schlaufe am Kopfende des Griffels beträgt etwa 5mm.
Artefaktbeschreibung - Der Schaft des bronzenen Griffels ist im Querschnitt gleichmäßig rund, verläuft gerade und ist weiter zum Ende hin spitz zulaufend geformt. An ihm ist nur eine Korrosionsstelle im unteren Drittel auffällig. Anders als der Schaft ist die Verzierung am Kopfende deutlich auffälliger und aufwändiger. Die Verzierung lässt sich in drei Teile unterscheiden, die von einander jeweils mit flachen, quaderförmigen Platten abgegrenzt sind. Die unteren beiden Abschnitte sind in ihrer Gestaltung gleich. Ihre Grundform bildet ein Polyeder, beschreibbar als ein länglicher Quader, dessen Ecken abgeschnitten/abgefeilt wurden, sodass als vier Außenflächen Rhomben bis Ovale entstehen. Über die fehlenden Ecken der länglichen Körper ragen so die Ecken der Platten hinaus. Die Flächen sind sehr regelmäßig gestaltet und zeugen von hoher Handwerkskunst. In die insgesamt acht ovalen bis rhombischen Flächen der beiden unteren Verzierungsabschnitte wurde jeweils eine runde Verzierung punziert. Es handelt sich dabei um eine runde Vertiefung, die in ihrer Mitte eine kleine ringförmige Erhebung aufweist. Aufgrund der Korrosion sind einzelne Punzierungen nur noch teilweise zu sehen. Das oberste Verzierungselement unterscheidet sich von den unteren und besteht aus einer platten, breiten Schlaufe. Mithilfe dieser Schlaufe und einem Draht oder Metallring wurde der Griffel einst am Gürtel des Besitzers befestigt. Oben auf der Schlaufe sind drei regelmäßige Rillen angebracht, sodass eine Hand mit vier Fingern erkannt werden kann. Ob die stilisierte Hand auch einen Daumen aufwies, ist aufgrund der einseitigen Beschädigung an der Schlaufe heute nicht mehr zu erkennen.
Datierung - Die Schreibgriffel der Harzer Gruppe sind ein atypischer Griffeltypus des 12. und 13. Jahrhunderts und gehören damit ins Hochmittelalter. Als atypisch werden sie wegen ihrer Aufhängevorrichtung bezeichnet, da anstelle ihrer sonst normalerweise ein Glätter zum Wachsglätten am Kopf des Griffels sitzt.
Abbildungen
Abb. 1: Verbreitungskarte der Griffel der Harzer Gruppe (Schimpff 1983, 219, Abb. 1).
Abb. 2: Vergleichbare Schreibgriffel der Harzer Gruppe mit Aufhängeöse und bei 1 mit erhaltenem Aufhängering, beide Artefakte stammen aus Brunshausen (Lüdecke 2013, 203, Abb. 1).
Abb. 3: Artefakt AI1 05-141 in Komplettansicht (Foto: Sara Colberg).
Abb. 4: Nahaufnahmen der Verzierungen, der Schlaufe und der Beschädigung (Foto: Sara Colberg).
Literatur
Lüdecke 2013: T. Lüdecke, Für den Frisiertisch nicht geeignet. Die mittelalterlichen Schreibgriffel mit Aufhängeöse und die Fehldeutung als Haarnadeln. Mitteilungen der DGAMN: Archäologischer Kontext und soziale Interpretation 23, 2013, 203–216.
Schimpff 1983: V. Schimpff, Zu einer Gruppe hochmittelalterlicher Schreibgriffel. Alt-Thüringen 18, 1983, 213–260.