Sinn und Sinnlichkeit der Vorstellungskraft: Musikhören im England der Frühaufklärung
Es ist das Ziel des Projekts, das Panorama des Musikhörens im England der Frühaufklärung zu rekonstruieren. Mit wissens- und sozialgeschichtlichem Ansatz werden Selbstzeugnisse als Erinnerungsberichte an Musikhören in Briefwechseln und Tagebüchern in Bezug zum zeitgenössischen Musik- und Kunstschrifttum, diversen Printmedien populärer Wissensverbreitung und Artefakten des Musik- und Kunstlebens gesetzt. Dabei steht vor allem eine interessierte, aber nicht professionelle Hörerschaft im Fokus, deren Beschreibungen vom eigenen Musikhören von körperlicher Aktivität, Passivität sowie sprachlich artikulierbarem Vergnügen – zunehmend stark mit künstlerischen Alltagsbeobachtungen verbunden – geprägt waren und zugleich erheblichen Anteil an Versuchen exakter wissenschaftlicher Verortung und ästhetischer Theoriebildung nahmen.
Mit ihrer Loslösung vom Hof als kulturellem Zentrum war die Musikkultur Englands um 1700 die vielfältigste Europas: Musik in Oper, Theater und – ca. 50 Jahre früher als auf dem europäischen Kontinent – kommerziellen Konzerten in sogenannten Musick Houses, Ballsälen und Lustgärten ergänzte das Musizieren am Hof, in der Kirche, auf der Straße und im Privaten. Die Vielfalt und Intensität des Musiklebens besonders Londons brachte auch neue kulturelle Praktiken des Musikhörens hervor. Gleichzeitig führte der Aufschwung von Druckmedien wie Buch, Zeitung und Zeitschriften dazu, dass höchst divergentes Wissen über Musik und ihre Wahrnehmung öffentlich rezipiert und diskutiert wurde. Das Projekt untersucht die gegenseitigen Abhängigkeiten von Musikkultur, Diskussionskultur und Musikpublikum, indem es nach dem Einfluss des publizistisch verbreiteten Musikwissens sowie der durch das Kulturangebot bestimmten Praktiken auf die Musikwahrnehmung des Publikums fragt. Dabei sollen sowohl diachrone Entwicklungen als auch synchrone Facetten der zeitgenössischen Musikwahrnehmung herausgearbeitet werden. Unterschiedliche Konzepte zur Vorstellungskraft erweisen sich hier immer wieder als maßgeblich dafür, wie eine interessierte, aber musikalisch nicht professionelle Hörerschaft wissenschaftliche und populär ausgerichtete Diskussionen zur Musik rezipierte und selbst prägte. Josephs Addisons Aufsätze zu den Pleasures of the Imagination können als paradigmatisch, aber keineswegs singulär dafür gelten, wie ein neuer, die Sinnesfunktionen fokussierender Diskurs auch Topoi der Musikbeschreibung transformiert, verabschiedet und ersetzt.
- Dauer: 2020–2024
- Projektleitung: PD Dr. Ina Knoth
- Drittmittelgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft