Institut für
Empirische Kulturwissenschaft (Anthropological Studies in
Culture and History)
Foto: UHH/Denstorf
19. November 2025

Foto: Studio Other Spaces (SOS)
Der Vortrag stellt eine Kooperation zwischen kulturanthropologischem Forschen und Arbeiten, Queer-Aktivismus und queerer Stadt- sowie Geschichtsvermittlung im Hamburger Stadtteil St. Pauli dar. Er bewegt sich an der Schnittstelle einer Stadt- und Raumforschung, von Queerer Anthropologie, Geschlechtergeschichte, engagiert-selbstreflexiver Forschung und Historischer Anthropologie. Im Zentrum steht das Verhältnis von Stadtraum und Geschlecht aus queertheoretischer Perspektive.
Ausgewählte Biografien – etwa der Tänzer:innen Marta Halusa und Margot Liu, der Bar-Inhaberin Ingrid Sonja Liermann oder der Travestiekünstler:innen Liddy Bacroff, Sylvin Rubenstein und Heinrich Bode – geben Einblicke in queere Lebensweisen während des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit sowie in widerständige Praktiken von lokalen Akteur:innen in Hamburg St. Pauli im 20. und 21. Jahrhundert. Auch die Strategien von Barbesitzerin Katharina und Künstler:innen wie Kirsten Nilsson und Angie Stardust zeigen, wie dominante Geschlechterrollen kreativ unterlaufen und nicht-normative Selbstverständnisse artikuliert wurden.
Basierend auf kulturhistorischen Quellen werden diese queeren Lebenswelten in einem Stadtteil vorgestellt, der oft als „bunt“ beschrieben wird – jedoch meist aus männlicher Perspektive. Weibliche und nichtbinäre Narrative fehlen häufig und bilden eine Leerstelle, der der Vortrag gezielt füllen möchte. Ausgehend von den biografischen und lebensweltlichen Kontexten werden durch eine mikrohistorische Perspektive die „große“ Erzählung des Stadtteils in „kleine“ Geschichten übersetzt. Ein Ziel des Vortrages ist es, queere Positionalitäten und marginalisierte Akteur:innen im öffentlichen Diskurs und der Erinnerungskultur sichtbar zu machen. Durch eine queere Lesart gesellschaftlicher, politischer und historischer Kontexte werden so normative Setzungen und ihre Wirkmacht im Alltag und in der lokalen Erinnerungspolitik dekonstruiert. Trotz vorhandener Archive und populärkultureller Repräsentationsformen zeigt sich, wie selektive Überlieferungstraditionen queere Geschichte marginalisieren.
Der Beitrag plädiert dafür, Stadt als queeren Wissens-, Handlungs- und Möglichkeitsraum zu verstehen – als Ort, an dem normative Grenzen, kulturelle Codes, Identitätskonstruktionen und Begehrensformen 'verschoben' werden können. "Queering the City" wird so zur Methode der Kritik wie auch zur Strategie kulturell-politischer Intervention, etwa um dominante Geschichtsnarrative aufzubrechen.
Didine van der Platenvlotbrug ist Queer-Aktivistin, Moderatorin, Drag und Performerin auf der Bühne. Seit über 30 Jahren ist sie in verschiedenen politischen und queeren Zusammenhängen aktiv, etwa beim Queeren Leuchtturm St. Pauli. Außerdem hält sie regelmäßig Vorlesungen an Universitäten, betreibt eine regelmäßige Radioshow und einen queer-feministischen Podcast, moderiert eine philosophische Talkshow und führt queere Kunstführungen und Performances in der Kunsthalle Hamburg und den Deichtorhallen durch. Sie ist Teil eines queeren Think Thanks für gesellschaftliche Zukunftsfragen in Südfrankreich. Als Diversity-Managerin gestaltet sie außerdem ein queeres Kunstfestival und Workshops für Queers und Allies in Unternehmen, Schulen, weiteren Bildungsinstitutionen und queeren spaces. 2020 gründete sie mit weiteren Aktivist:innen das Feminité - Weiblichkeiten-Museum St. Pauli. 2024 wurde das Buch "Weiblichkeiten auf St. Pauli" im Junius-Verlag veröffentlicht.
Manuel Bolz ist Kulturwissenschaftler. Er arbeitet, forscht und lehrt in Hamburg und Göttingen. Nach dem Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Germanistik in Hamburg und ersten Berufserfahrungen als studentische und wissenschaftliche Hilfskraft, Tutor und Lehrbeauftragter in Hamburg und Kiel sowie als freiberuflicher Kulturwissenschaftler und wissenschaftlicher Projektmitarbeiter für Universitäten, Kulturinstitutionen, Stiftungen und Museen, ist erst seit Oktober 2023 am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Universität Göttingen tätig. Dort erarbeitet er sich ein ethnografisches Promotionsprojekt zu urbanen Sicherheitskonflikten, zur Versicherheitlichung von urbanem Vergnügen und Produktion eines städtischen Sicherheitsregimes in Hamburg St. Pauli nach dem Zweiten Weltkrieg. Er ist in der historisch-kulturwissenschaftlichen Werkstatt (hkw), der Hamburger Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (hgekw) und dem Forschungsverbund zur Kulturgeschichte Hamburgs (FKGHH) aktiv.
Das vollständige Programm des Institutskolloquiums finden Sie hier.