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Was wissen wir über Wein? Wie wird Weinwissen hergestellt und für gültig erklärt? Welche Bedeutungszuschreibungen, Materialitäten und Praktiken wirken aufeinander ein und konstituieren das Nahrungs-, Genuss- und Rauschmittel Wein?
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In Hamburg ist Wein physisch oftmals nur einen Gang zum Kiosk oder Supermarkt entfernt. Wie werden Zugänge zu Wein und Wissen reguliert? Wie regulieren sich Akteur*innen selbst? Kann jede*r Weinexpert*in werden? Welche Rolle spielt ‚Wein‘ dabei?
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Ist Wein Natur- und/oder Kulturprodukt? Welche Rolle spielen technologische und oenologische Entwicklungen im Weinbau und der -verarbeitung? Welche technischen Verfahren werden eingesetzt, um Aromen und Geschmäcker herzustellen?
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Die Corona-Pandemie hat das gemeinsame Anstoßen über Video-Schaltungen in Freundes- und Familienkreisen vorangetrieben. Wie kann ‚Wein‘ trotz Abstandsgebot und Ausgehverbot vergemeinschaftend wirken? Wie kreiert er vielfältige Atmosphären von Rausch, Gewalt oder Gemütlichkeit? Wie wird er inszeniert, repräsentiert und glorifiziert?
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Wie wirken Laborinstrumente, Messungen und die Diagramme auf die Wissenspro-duktion zu ‚Wein‘ ein? Wie Weinwissenschaften in den offenen Netzwerk wirken kann, zeigt sich in Verbindungen zu globalen Ökonomien. Wie erlauben Standardisierungs-anforderungen in der Weinproduktion und -vermarktung Kreativität in Kontext von Marktlogiken?
Wein als soziales und kulturelles Alltagsphänomen (mit ‚Handlungspotential‘)
Während des Corona-Lockdowns prosteten sich manche getrennt lebenden Freunde und Familien vor ihren Bildschirmen mit einem Glas Wein zu. Auch Wine-Tastings wurden von Anbieter*innen während der geltenden Abstandsgebote und Ausgehverbote ins Digitale verlagert. Phänomene wie diese machen neugierig darauf, wie Wein trotz physischer und sozialer Distanz vergemeinschaftend wirken kann. Sie provozieren außerdem Fragen danach, wie anpassungsfähig und wandelbar selbst eindeutig scheinende Praktiken rund um das Nahrungs-, Genuss- und Rauschmittel ‚Wein‘ sind und wie sie gegenwärtige Alltage prägen.
Diese und weitere Fragen beschäftigen uns im Sommersemester 2020 im “Selbstorganisierten Studentischen Projektseminar” (SPS) “In Vino Veritas? Wissensraum Wein zwischen Rausch, sozialer Distinktion und Geschmackslandschaft” am Hamburger Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie. Wir beleuchten das Phänomen Wein multiperspektivisch und nehmen sowohl historische als auch gegenwartsorientierte Ansätze in den Blick. Im Vordergrund stehen – ausgehend von volkskundlichen Perspektiven – neue Materialitätstheorien, welche dem Wein selbst aktive Handlungsmacht (agency) zuschreiben. Wir betrachten Wein also nicht nur als passiven Gegenstand, welcher durch den Anbau, die Verarbeitung und den Konsum in Alltage eingebettet sein kann, sondern als sinnstiftenden Akteur, der selbst Handlungspotenziale besitzt. So können Dynamiken und Wandlungsprozesse in den Themenbereichen Emotionen, Rausch oder Weinpolitiken vielfältig gedeutet werden. Diese werden in menschlichen Alltagen und sozialen Praktiken auf ganz verschiedene Arten und Weisen sichtbar, beispielsweise wenn Weinkonsum Rauschgefühle auslöst oder in einem anderen Kontext als Blut von Christi religiöse Sinnstiftung ermöglicht.
Wein durchdenken - Durch Wein denken
Erste Debatten über die Handlungspotenziale von Wein, welche beim abendlichen Zusammensitzen auf einer Exkursion angestoßen wurden, haben wir zum Anlass genommen, ein Projektseminar zu konzipieren und Wein mit anderen Studierenden gemeinsam zu durchdenken. Zugespitzt könnten wir die Situation so formulieren, dass der Wein selbst Anlass gegeben hat, ihn in den Mittelpunkt eines Seminars zu stellen.
Aber nicht nur auf der Mikroebene – wie wir im Rahmen des Seminars herausgefunden haben – ist ‚Wein‘ wirksam. Darüber hinaus motiviert er bestimmte Berufsfelder und Expert*innenkulturen, prägt regionale Identitäten oder beeinflusst globale Ökonomien. In vielfältigen Kontexten beschäftigen sich ganz verschiedene Akteur*innen und Institutionen mit dem Phänomen ‚Wein‘ und produzieren jeweils spezifisches Weinwissen. Zu nennen sind neben Sommelier*innen und Wissenschaftler*innen der Oenologie auch Alltagsakteur*innen.
Uns interessieren aus diesem Blickwinkel heraus ebenso die Aushandlungsprozesse von Wissensordnungen wie beispielsweise Diskurse über Gesundheit, die gesellschaftliche Akzeptanz von Alkoholkonsum, Weinqualitäten oder auch das Ablehnen von Weinkonsum. Im Fokus stehen auch Narrationen von Weingeschichten und konkrete Praktiken und die sozio-materiellen Dimensionen von Wein, wenn er handlungsleitende Ressource ist.
Praktiken – Materialitäten – Deutungen. Kulturanthropologische Perspektiven auf Wein und Wissen
Das Phänomen Wein ist Forschungsgegenstand verschiedener akademischer Disziplinen. Die transdisziplinär arbeitende Kulturanthropologie plädiert aber für eine Verknüpfung von Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Damit eröffnet sie das Potenzial, die vielfältigen auch widersprüchlichen Verflechtungen der Agency von Wein, Akteur*innen in Weinphänomenen, ihren Praktiken und ihren Sinndeutungen in Beziehung zu setzen. In Ansätzen der Science and Technology Studies (STS) werden kultur-, natur- und materialwissenschaftliche Wissensbestände als offene Netzwerke verhandelt, deren Grenzen aufgelöst werden.
Ethnografisch zu forschen heißt für uns, verschiedene Blickwinkel auf ein Phänomen einzunehmen, um die komplexen Dynamiken unserer Umwelten verstehen zu können. Die Kontextgebundenheit von Bedeutungszuschreibungen, welche die Umgangsweisen mit Wein strukturieren, können so aufgeschlüsselt werden. Denn die Sinnhaftigkeiten von Weinphänomenen werden kontinuierlich hervorgebracht, herausgefordert oder auch in Frage gestellt. Die Beschäftigung mit dem Themenfeld Wein kann dazu beitragen, zu verstehen, wie sich Akteur*innen gerade auf spezifische Arten und Weisen zum/mit Wein positionieren. Bereits das Halten eines Weinglases, die Adaption von Weinsprache oder der Blick auf ein Weinetikett verdeutlichen das Miteinander-Verschränkt-Sein von unterschiedlichem Weinwissen und den Hybridcharakter von Wein. In diesem Themenfeld verdichten sich gesellschaftliche Werte und Normen, soziale Ungleichheiten und Geschmäcker, Lebensstile und Vorstellungen von einem ‚guten‘ Leben. Auch der Blick auf Weinbau als Kulturtechnik, welcher in Deutschland als Kulturerbe beworben wird, zeigt die Verflechtungen der Beziehungen von Wirtschaft, Politik und Globalisierungsprozessen. Auf der strukturellen Ebene stehen Weinphänomene unter dem Einfluss von Lebensmittelgesetzen, Zielen der Tourismusbranche, den Bewohner*innen der Weinbaugebiete, Global Player*innen oder der freien Marktwirtschaft. Auf der Alltags- und Akteursebene wird Wein möglicherweise zur Bekräftigung des eigenen sozialen und symbolischen Kapitals getrunken, präsentiert und inszeniert. Durch die kulturanthropologische Perspektive können diese Verstrickungen im Kleinen entzerrt werden.
Unsere Zwischenergebnisse umfassen Erkenntnisse zu identitätsstiftenden und geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Inszenierungsformen von Wein durch die exklusiv-wirkende Weinsprache. Darüber hinaus hat der Ansatz, Wein in den Fokus zu stellen und seine Agency zu beachten, produktive neue Perspektiven über physische Effekte (wie Rausch) hinaus ermöglicht. Auch die Weinwissenschaften, die Weinwirtschaft und politische Gesetzgebung entstehen ausgehend von ‚Wein‘ und schlagen sich in den lokalen Weinbaugebieten und daher auch in den alltäglichen Arbeits- und Lebenswelten der Winzer*innen und Konsument*innen nieder. Wir haben auch erste Einblicke in Wissenskonstitution und Materialisierungen gewonnen. Die Digitalisierung des gemeinsamen Erlebens von Weintrinken z. B. führt zu einer Überführung der sinnlichen Erfahrung in Sprache, ‚körperliches‘ Wissen und Praktiken mit Bildfähigkeit. Als handlungsmächtige Entität muss ‚Wein‘ allerdings ausdifferenziert betrachtet werden. Aus seinen variierenden Emergenzen generieren sich ganz unterschiedliche Praktiken, Präsentationsformen, Geschmäcker und sie ermöglichen vielfältige gruppenspezifische Distinktionsprozesse – auch in der digitalen Praxis.
Ausblick
Die teilnehmenden Studierenden entwickeln ihre jeweils eigenen Forschungsperspektiven, die ein Spektrum von Wein-Handlungspotenzialen aufzeigen. Solche Ansätze können zugespitzt werden, wenn wir neben dem Einfluss von Laborinstrumenten, Zusatzstoffen und Diagrammen auch Pilze, Bakterien und Gärungsprozesse auf der mikroskopischen Ebene in der Produktion von WeinWissen berücksichtigen. Am Ende des Sommersemesters 2020 werden die verschiedenen studentischen Forschungen auf dem Blog WeinWissen präsentiert.
Einen weiteren Artikel zu dem SPS finden Sie im News Room der Universität Hamburg
Projektgruppe: die Studierenden Daria Felicia Margo Helmke, Gert Henry Hagemann, Manuel Bolz und die leitende Dozentin Dr. Stefanie Mallon
Format des Selbstorganisierten Studentischen Projektseminars (SPS)