Mikroidentitäten im hellenistischen und kaiserzeitlichen Bithynien: Archäologischer Survey in Nikaia, Iznik/Türkei (abgeschlossen)
Das Forschungsvorhaben war der materiellen Kultur von Nikaia (Iznik / Prov. Bursa, Türkei) in den Epochen des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit (ca. 300 v. – 395 n. Chr.) gewidmet. Der reiche Denkmäler-Bestand der innerhalb Bithyniens bedeutenden Polis war – mit Ausnahme der Inschriften – zuvor nicht systematisch erschlossen worden. Das primäre Ziel war es deshalb, die antiken Monumente, die sich innerhalb der türkischen Kleinstadt İznik in situ oder als Spolien verbaut erhalten haben oder in dem lokalen Museum aufbewahrt werden, mit einem urbanen Survey umfassend zu dokumentieren. Darauf aufbauend sollten sie im Hinblick auf ihre Aussagen zur Herausbildung kollektiver Identitäten in politischen und kulturellen Räumen unterschiedlicher Größe und Struktur untersucht werden. Das Vorhaben wurde in interdisziplinärer Verschränkung von Klassischer Archäologie, Historischer Bauforschung und Angewandter Geophysik sowie in enger Abstimmung mit dem Archäologischen Instituten der Uludağ Universität Bursa (Prof. Dr. Mustafa Şahin) durchgeführt. Den Schwerpunkt bildete dabei die Untersuchung der Entwicklung der Nekropolen und Grabmäler Nikaias von Ali Altın (abgeschlossenes Promotionsvorhaben). Insgesamt konnte damit ein Beitrag zu einer systematischen Aufarbeitung der bislang kaum bekannten Archäologie Bithyniens geleistet werden.
Geophysikalische Prospektionen
Sechs Areale im Stadtgebiet von İznik wurden mithilfe von Geomagnetik, Georadar und Geoelektrik prospektiert (Abb. 1). Ausgewählt wurden Freiflächen innerhalb bzw. unmittelbar außerhalb des Stadtgebiets, von denen spezifischere Erkenntnisse zu der antiken Stadtanlage und ihrem Straßenraster zu erwarten waren. Erfolgreich waren vor allem die Untersuchungen im Nordwesten, wo Kollegen aus Kiel und Kocaeli bereits 2007 die Grundmauern einer byzantinischen Kirche entdeckt hatten. Nun ließ sich die seinerzeit prospektierte Fläche erweitern, wobei eine längliche, aus doppelreihigen Kammern bestehende Struktur (Halle?) entdeckt worden ist. Ihre Orientierung folgt derjenigen der beiden Hauptachsen von İznik, die ihrerseits aus der Position der vier Stadttore und dem aktuellen Verlauf der sie verbindenden Straßen abzuleiten ist. Die Gebäudeecken vermitteln Anhaltspunkte zur Rekonstruktion des Straßenrasters von Nikaia. Eine Messfläche südöstlich davon zeigt neben regelmäßigen Strukturen einer rechtwinkligen Hofanlage eine kleinteilige, offenbar nicht übergreifend ausgerichtete Bebauung, die im Hinblick auf massive Störungen (Öfen?) vielleicht als Werkstattzone zu deuten ist und einen Eindruck von der Heterogenität des urbanen Raumes vermittelt.
Unmittelbar außerhalb des Yenişehir-Tores im Süden der Stadtbefestigung war der Negativbefund der geophysikalischen Prospektion aufschlussreich. Da die Überlandstraße nach Süden von diesem Tor ausgeht, hatten wir erwartet, in den Freiflächen vor dem Tor Hinweise Spuren einer kaiserzeitlichen Gräberstraße zu finden. Die mit Georadar und Geoelektrik durchgeführten Untersuchungen gaben jedoch nur wenige Strukturen zu erkennen, von denen sich keine überzeugend als Rest eines Grabbaus verstehen lässt. Den Befund hat Ali Altın mit Beobachtungen im Umland von Nikaia erklärt. Im Rahmen einer extensiven Untersuchung der Umgebung der Stadt hat er zahlreiche Nekropolen-Areale entdeckt und dokumentiert. Möglicherweise wurden aufwendigere Grabanlagen daher dezentral auf den Ländereien ihrer Besitzer errichtet.
Spoliensurvey
Im Rahmen der 2013, 2014 und 2015 durchgeführten Feldkampagnen wurde des gesamte Stadtgebiet von Iznik systematisch begangen und nach Steindenkmälern abgesucht. Entsprechende Spolien sind insbesondere in der spätkaiserzeitlichen, in den folgenden Jahrhunderten immer wieder veränderten Stadtbefestigung, aber z. B. auch in einigen Moscheen verbaut (Abb. 2). Zudem wurden Architekturteile und andere bewegliche Stücke außerhalb fester Bauzusammenhänge in den Straßen der Stadt angetroffen. Alle Teile wurden lokalisiert, vermessen, beschrieben und fotografiert. Überwiegend handelt es sich um Reste von Grabdenkmälern (Urnen, Sarkophage, Stelen usf.), welche die Materialbasis der Dissertation von Ali Altın erweitern und in diesem Zusammenhang ausgewertet worden sind.
Darüber hinaus vermitteln die Spolien Einblick in die antike Verwendung anderer Denkmälergruppen wie auch in den nachantiken Umgang mit ihnen. So hat Clarissa Haubenthal Maße, Material und räumliche Verteilung von 448 im Rahmen des Survey erfassten, in den Befestigungsmauern sowie an unterschiedlichen Stellen im Stadtgebiet verbauten kaiserzeitlichen Säulen analysiert. Dabei zeigte sich u. a., dass ihr überwiegender Teil aus lokalem Marmor hergestellt worden ist. Säulen aus Buntmarmor sind gleichfalls belegt, wurden aber offenbar vor allem für kleine bis mittlere Formate verwendet. Schließlich deute der Umstand, dass sie vielfach Cluster von Säulen gleicher Maße beobachten konnte, darauf hin, dass zu bestimmten Zeitpunkten kaiserzeitliche Großbauten Nikaias systematisch niedergelegt worden sind, um das Material etwa zur Errichtung der Befestigungsmauern wiederzuverwenden.
Bauaufnahmen
Im Stadtgebiet von İznik sind außer der Befestigung und dem Theater, die in jeweils eigenen Projekten erforscht werden, Reste von zwei antiken, in die Stadtbefestigung einbezogenen Bogenmonumenten erhalten. Sie sind im Rahmen des Projektes zusammen mit zwei Stadttoren mit verschiedenen Methoden (Handaufmaß, Fotogrammetrie und terrestrisches Laserscanning) dokumentiert und bauforscherisch untersucht worden (Abb. 3). Dabei bestätigte sich zunächst der Eindruck, dass es sich bei den Monumenten im Norden (İstanbul-Tor) und Osten (Lefke-Tor) tatsächlich zunächst um freistehende, in flavischer Zeit errichtete Ehrenbögen und nicht, wie in der Literatur häufig behauptet, um Stadttore gehandelt hat (Abb. 4). Erst im Zusammenhang mit der Errichtung des spätkaiserzeitlichen Befestigungsrings in der Mitte des 3. Jh. sind sie in die neuen Torbauten einbezogen worden. Das südliche Seetor im Westen sowie das Yenişehir-Tor im Süden sind hingegen von Anfang an als Teil der Stadtbefestigung entstanden. Wie sich u. a. aus den Versatzmarken ergibt, hat man zur Errichtung des Yenişehir-Tors offenbar einen ursprünglich an anderer Stelle errichteten Bogen transloziert.
Im Rahmen unseres Projektes wurden zudem Bauaufnahmen antiker Grabanlagen angefertigt. Dabei konnten zwei gut erhaltene Grabkammern hellenistischer Tumuli dokumentiert werden. Sie sind sowohl im Hinblick auf ihre Ausstattung mit steinernen Klinen und Kylikeia von Interesse, als auch wegen ihrer Deckungstechnik (Kragsteingewölbe, Keilsteinbogen). Die Fragmente eines bereits in älteren Publikationen erwähnten, sarkophagartigen Grabbaus wurden gleichfalls dokumentiert. Auf dieser Grundlage konnte zum ersten Mal eine Rekonstruktion des Monuments erarbeitet werden. Weitere Bauaufnahmen wurden von einem spätkaiserzeitlichen Ziegelgrab sowie von zahlreichen Grabstellen mit Clustern einfacher Chamosorien im Umland von İznik angefertigt.
Grabdenkmäler und Nekropolen
Die im Rahmen der Dissertation von Ali Altın angestellte Untersuchung der antiken Grabdenkmäler und Nekropolen von Nikaia stützt sich auf die Aufnahme aller einschlägigen Steindenkmäler (Stelen, Urnen, Sarkophage) im Museum von İznik sowie das mit dem Spoliensurvey erschlossene Material. Zudem wurden zwei hellenistische und ein spätkaiserzeitliches Kammergrab, die Reste eines monumentalen Grabbaus in Sarkophagform sowie Cluster einfacher Chamosorien mit Bauaufnahmen dokumentiert.
Die Untersuchung der Topographie der Nekropolen zeigt, dass geschlossene Gräberareale nur in wenigen Fällen bekannt sind. Deshalb sind zusätzlich die Fundortangaben der zahlreich in das lokale Museum verbrachten Denkmäler ausgewertet und auch ‚Negativ-befunde‘ wie das Fehlen hellenistischer und kaiserzeitlicher Gräber im Stadtgebiet von İznik berücksichtigt worden. Die Kartierung der Fundplätze zeigt, dass die Gräber vor allem in der weiteren Umgebung der Stadt angelegt worden und dort jeweils zu kleineren Ensembles gruppiert sind. Zur Erklärung der randständigen Lage dieser Nekropolen lässt sich auf die Schonung landwirtschaftlich nutzbarer Flächen verweisen wie auch auf eine soziale Differenzierung, die zur Agglomeration von Gräbern von Angehörigen eines spezifischen sozialen Status‘ in bestimmten Gegenden geführt hat.
Ali Altın hat zudem die Materialität der Grabdenkmäler untersucht und dabei die örtlichen Spuren von antiken Steinbrüchen studiert. Aufgrund der jeweils spezifischen Materialien kann er zeigen, dass vor allem bestimmte Brüche zur Herstellung von Sarkophagen und anderen Steindenkmälern, andere zur Gewinnung von Baumaterial für Kammergräber ausgebeutet worden sind. Die Vertreter des in der Umgebung am häufigsten anzutreffenden Typus des Truhen-Sarkophags sind durchweg aus lokalem Material hergestellt worden; es handelt sich also offensichtlich um in Nikaia selbst produzierte Exemplare.
Ein wichtiges Ergebnis der Arbeit ist zudem die Vielfalt der Grabformen, deren Spektrum von einfachen Stelen bis hin zu gebauten Grabkammern reicht. Monumentale Grabanlagen lassen sich sowohl in hellenistischer (Kammergräber) als auch in der römischen Kaiserzeit (Obelisken) nachweisen (Abb. 5). Die ihrer Zahl nach bedeutendste Gattung stellen die Sarkophage dar, unter denen sich schmucklose, aus dem anstehenden Fels gearbeitete Stücke ebenso finden wie mehrere Exemplare von Dokimeion-Sarkophagen. Den größten Anteil stellen jedoch die für den Ort typischen Truhensarkophage dar. Die chronologische Gliederung des Materials beruht weitgehend auf einer stilistischen Reihung, da Kontexte nicht überliefert sind. In einigen Fällen geben auch Inschriften Hinweise. Insgesamt zeigt sich, dass Grabstelen vor allem in hellenistischer Zeit verwendet worden sind, wenngleich einzelne Exemplare auch der mittleren Kaiserzeit zugewiesen werden können. Die Verwendung der Sarkophage in Nikaia setzt dann im Anschluss an die Hauptproduktion zu Beginn des 2. Jh. n. Chr. ein. Dabei wurde zunächst das Schema des Girlandensarkophags übernommen, bald jedoch auch ein eigener, lokalspezifischer Typus (Truhensarkophag) entwickelt. Diese Truhensarkophage (Abb. 6) lassen sich aufgrund von Inschriften mit Angehörigen verschiedener sozialer Gruppen verbinden und scheinen als lokalspezifische Form für die Bewohner von Nikaia besonders attraktiv gewesen zu sein. Dazu mag beigetragen haben, dass sich innerhalb der Gattung durch unterschiedliche Kombinationen von Dekorelementen Abstufungen des Aufwandes ergaben, die es den Auftraggebern ermöglichten, innerhalb des Schemas eine ihnen jeweiligen Möglichkeiten entsprechende Form der Repräsentation zu finden. Einem anderen Diskurs lassen sich die bekannten, nach Nikaia importierten Sarkophage aus Dokimeion zuordnen. Der hohe materielle Aufwand, der mit der Herstellung und dem Transport der jeweiligen Exemplare verbunden ist, lässt sich ebenso wie ihre spezifische, Werte der Paideia hervorhebenden Ikonographie mit Angehörigen der lokalen Eliten verbinden.
Gesamtergebnis
Die bisherige Auswertung des Materials deutet darauf hin, dass es erst in der römischen Kaiserzeit zu einem massiven Ausbau der Stadtanlage von Nikaia gekommen ist. Hellenistische Bauornamentik haben wir nicht angetroffen, während aus der römischen Kaiserzeit zahlreiche Bauteile als Spolien im Stadtraum von İznik erhalten sind. Auch die wenigen öffentlichen Bauten, von denen substanzielle Reste überliefert sind (Stadtbefestigung, Theater, Bogenmonumente) stammen aus nachhellenistischer Zeit. Schließlich ist in der Kaiserzeit ein deutlicher Anstieg der Zahl an Grabdenkmälern zu verzeichnen. Zwar fanden sich mit Grabkammern und Stelen durchaus Zeugnisse der Sepulkralkultur des hellenistischen Nikaia, doch machen die kaiserzeitlichen Sarkophage, Urnen und Grabaltäre den weitaus größten Teil des insgesamt überlieferten Denkmälerbestandes aus.
Am Beispiel der Grabdenkmäler wird besonders deutlich, wie die fortschreitende Integration der Stadt in das Imperium Romanum zur Etablierung bestimmter, zuvor am Ort nicht vertretener Denkmalsformen geführt hat. So ist die Sarkophagbestattung im Hinblick auf die einschlägige Ikonographie der ältesten Beispiele offenkundig durch das stadtrömische Vorbild angeregt worden. Zugleich ist rasch ein lokalspezifischer Sarkophag-Typus entwickelt worden, dessen Vertreter schließlich den Großteil aller Sarkophage aus dem Ort ausmachen. Parallel dazu wurden als besonders aufwendige Form Säulensarkophage aus Dokimeion in Zentralanatolien importiert. In dem lokalen Kontext von Nikaia stellt sich Romanisierung mithin offensichtlich als ein komplexer, durchaus heterogene Dynamiken auslösender Prozess dar.
Dauer: 2012-2018.
Projektleitung: Prof. Dr. Christof Berns.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Ahmet Ali Altın.
Kooperationspartner: Prof. Dr. Mustafa Şahin (Uludağ Üniversitesi Bursa); Prof. Ing. Michael Breuer, Beuth-Hochschule für Technik Berlin.
Finanzierung: DFG (BE 3219/2-1).
- Dauer: 2012–2018
- Projektleitung: Univ.-Prof. Dr. Christof Berns
- Drittmittelgeber: DFG (BE 3219/2-1)